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Direktdemokratisches Klagelied

Direktdemokratisches Klagelied

In der Schweiz wurde das COVID-19-Gesetz zum dritten Mal angenommen — das ist Ausdruck eines kulturellen Verfalls, vor dem nicht einmal das Vorzeigeland direkter Demokratie gefeit ist.

Liebe Deutsche,

immer und immer wieder habe ich mich behaglich gesonnt in eurer
Bewunderung für die Schweiz. Wir sind ja auch zu beneiden, nicht wahr, wir wackeren Widerborstler, wir Bremsklötze im Elektromobil des eurozentristischen Zeitgeists, wir unbelehrbaren Festklammerer an Volkssouveränität und ähnlich versponnenen Anachronismen, wir Verweigerer, Neinsager und — ach ja — Rosinenpicker.

Nun, ihr könnt eure Mischung aus zerknirschter Anerkennung und glanzäugiger Wehmut wieder einpacken; der Anlass dafür ist spätestens seit heute aus der Welt geschafft.

We had a good run, wie der Anglizist sagt: Wir hatten die Chancen, die Gelegenheiten, jedes erdenkliche Rüstzeug, um dem Schnellzug in die Clownswelt ein Stöckchen ins Getriebe zu werfen — Platsch!

Genau, „platsch“, das Geräusch einer epochalen Bauchlandung, der Soundtrack unseres Verrates an den Hoffnungen der letzten aufrechten Abendländer. Sorry, wir haben’s verbockt. Tschulligung.

Ach ja, ich vergaß zu erwähnen: Wir haben zum dritten Mal das „COVID-19-Gesetz“ angenommen, ein Gesetz, dessen erschreckend dummer Name den Inhalt treffend vorwegnimmt. Es regelt die Kompetenzen des Bundesrates dahingehend, dass er beim nächsten pandemischen Notfall weiterhin die Befugnisse hat, blah, blah, blah... ihr kennt den Rest.

„So sehen schlechte Verlierer aus! Gibt es etwas Schäbigeres als die Klage über eine Abstimmungsniederlage? Etwas Erbärmlicheres als empörte Weinerlichkeit, nachdem der legitimste Souverän der westlichen Welt gesprochen hat?“

Nein. Aber wisst ihr was? Heute will ich schäbig sein, will erbärmlich sein, will heulen, zetern, aufstampfen und Mordio schreien. Mein Herz ist übervoll, und jeder, der mich daran zu hindern versucht, meinen Schmerz in die Welt hinauszubrüllen, kriegt eine aufs Maul! So.

Natürlich sollte es mir ein Trost sein, dass das Zustandekommen eines Referendums eine Herkulesarbeit ist, dass es an ein Wunder grenzt, dass uns dies ein weiteres Mal geglückt ist.

Ich bin aber nicht in der Stimmung für Trost, ok?

Morgen vielleicht.
Heute wird geweint.

Ihr einst so wackeren Teutonen, denen der Schafsblick genauso wenig steht wie uns, ihr dürft in eurem Narrenschiff gerne ein Plätzchen für uns freimachen und uns kameradschaftlich zurufen: „Welcome on board, Helvetia!“

Einige von euch werden sich ein Tränchen verdrücken, ganz gewiss. Seid geschwisterlich umarmt, ihr, die ihr in der direkten Demokratie so etwas wie einen Game Changer zu erkennen glaubtet, einen Wegweiser in jenes politische Utopia, auf das hinzusehnen sich so sehr lohnt. Ich weiß, dass ihr diese Träume träumt; sogar eure Pest- und Schwefelpartei besteht auf der Schweiz als politischem Vorbild, so sehr, dass sie unsere Alpenrepublik fest in ihr Parteiprogramm gepackt hat. Lest nach!

Ich sehe euch misshandelten Kinder der real existierenden Zwangstransformation vor mir stehen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: „Wenn’s die direkte Demokratie nicht hingebogen bekommt, was dann?“

Ich muss euch enttäuschen: Wir können uns die tollsten Volksherrschaften zimmern, komplett mit Rüschen und güldenen Ornamenten, sie werden’s nicht richten. Es geht hier nicht um ein politisches System, nicht um eine Organisationsform, nicht um ein Verfahren.

Es geht um Kultur. Demokratie ist gewiss ein nützliches Werkzeug; es dient jedoch bestenfalls dazu, der Kultur eines Gemeinwesens politischen Ausdruck zu verleihen. Wären wir ein Völkchen, dessen kulturelles Selbstverständnis darin bestünde, regelmässig in seine Nachbarländer einzufallen und Frauenraub zu begehen, dann würden wir darüber abstimmen, ob wir uns lieber an den Weibern des Nordens oder des Südens laben wollten. An der Qualität unserer Demokratie wäre keineswegs zu kritteln (wohl aber an unserer Außenpolitik).

Die dritte Zustimmung zu jenem Gesetz, dessen Name hier nicht mehr genannt werden soll, stellt kein Versagen unserer Demokratie dar, nein: Sie ist Ausdruck unseres kulturellen Zerfalls, und von Kulturzerfall muss ich euch, meine lieben nördlichen Nachbarn, wohl nichts erzählen, oder?

Das oben erwähnte Boot, wir sitzen schon längst gemeinsam darin, ohne Navigation, ohne Lotsen, ohne Proviant.

Keine Angst, ich werde hier nicht die 48,5 Merkmale der kulturellen Erosion, die uns ereilt hat, aufzählen. Dies wurde zur Genüge getan, in aller Gründlichkeit und streckenweise brilliant. Zu nennen wären Raimond Unger, Douglas Murray, Michael Klonowsky, Milosz Matuschek, James Lindsay und viele mehr.

Ich möchte nur ein kleines Schlaglichtlein werfen auf einen Aspekt, der mir besonderes Magendrücken bereitet. Ich weiss nicht, ob es euch aufgefallen ist, aber ist es nicht bemerkenswert, dass unter all den Wörtern, die zu waffenfähigen Schmähbegriffen umgebaut worden sind, mittlerweile auch die Vokabel „Versteher“ dazugehört? Nun gut, vorwiegend noch mit dem Präfix „Putin“ versehen, aber das fröhliche Austauschen ist nur eine Frage der Zeit. „Versteher“, meine Güte, was für ein Abstieg eines vormals respektablen Wortes! Woran erinnert mich das? – Genau, an meine Schulzeit.

Die Schnellmerker, die Neugierbesoffenen, die Kenntnisgeilen, die
Besserwisser, all jene, die nicht aufhören konnten, Interesse am Schulstoff zur Schau zu tragen: Was haben die genervt! Diese penetranten Alleswissenwoller, die’s nie gut sein lassen konnten, die immer wieder aufgestreckt haben, als alle anderen schon längst auf gnädige Erlösung hofften, darauf, dass nach der Aufforderung „Noch Fragen?“ keiner dieser Arschgeigen jene Grabesruhe stören möge, die dem Pauker das einzige signalisierte, was er verdient hatte: Vernichtendes Desinteresse.

Wir sind zu dieser Klasse geworden. Wissen ist uncool. Lernen für’n Arsch. Lesen Körperverletzung.

Wie sonst lässt es sich erklären, dass sich bei einer spontanen Passantenbefragung mit Garantie niemand finden ließe, der bei der Frage nachder Infektionssterblichkeit von Corona eine annähernd zutreffende Zahl nennen kann? Das Lebendgewicht der aktuellen GNTM-Siegerin: Auf’s Gramm! Aber Angaben zur Übersterblichkeit der letzten Jahre? Zur Wirkung von Lockdowns? Leere, Ödnis, Wüste.

Ich bitte euch, das ist doch keine Raketenwissenschaft! Auf die Gefahr hin, hier den nervigsten Streber aller Zeiten zu markieren, aber könnt ihr nicht einmal ein gutes Buch zum Thema aufschlagen? Wie kann es sein, dass in einer Schriftkultur die Aneignung von Wissen einen solch kümmerlichen Stellenwert hat?

Jaja, Propaganda, postfaktische Grütze und Feick Njuus, ich kann’s nicht mehr hören. Natürlich, wenn jeder etwas anderes erzählt, wie will man sich da seine Schneise zur Wahrheit schlagen? Aber ich bitte euch: Wie schwer kann es sein, einen Quacksalber von einer Koryphäe zu unterscheiden? Einen Apparatschik von einem Staatsmann? Eine kluge Stimme von einer Plattitüdentröte? Wann, so frage ich euch, habt ihr eure Nase zum Erschnüffeln von Knalltüten verloren? Von Rattenfängern, von Hütchenspielern, von Ganoven und Halunken? Habt ihr euch nicht alle schon politisches Kabarett angeschaut, in nebliger Vergangenheit? Wart ihr nicht einst begierig darauf, von den Hildebrandts und Pispers erklärt zu bekommen, wer im Hintergrund die Fäden zieht und euch für dumm verkauft? War das nicht einmal euer Ding?

Nun plötzlich wisst ihr nichts mehr und müsst alles glauben. Wieso, weshalb, warum? — Wer nicht fragt, bleibt dumm.

Und natürlich: Wer nicht weiß, was eine notstandswürdige Pandemie ist, der glaubt, dies sei eine gewesen. Wer nicht weiß, was eine Zulassungsstudie ist, der glaubt, ein Teleskop sei eine. Wer nicht weiß, was eine Impfung ist, der glaubt, eine Gentherapie fiele ins gleiche Fach. Wer nicht weiß, was Diskriminierung ist, glaubt, 2G sei keine. Wer nicht weiß, was Grundrechte sind, glaubt, ihm würden keine verwehrt. Wer nicht weiß, was ein Rechtsstaat ist, glaubt, er lebte in einem. Nicht zu vergessen: Wer nicht weiß, was menschliche Fortpflanzungsbiologie ist, glaubt, aus zwei Geschlechtern würden über Nacht hundert (der musste
sein).

Eine Kultur, die sich mit den Lümmeln in die letzte Bank setzt; eine Kultur, die aus Lust an der revolutionären Attitüde die Lernarbeit verweigert und stattdessen so tut, als sei Relativismus eine kognitive Glanzleistung; eine Kultur, die die Belesenheit ihrer Väter als Vehikel schnöden Machterhalts degradiert — eine solche Kultur verliert die Fähigkeit, sich der Wirklichkeit anzunähern und ihr in angemessener Weise zu begegnen. Sie wird sich uneins darin werden, was ist und was nicht, sie wird keinen Konsens zustande bringen, weder in den banalsten noch in den höchsten Dingen.

Die Schweiz, meine lieben deutschen Leidensgenossen, stellt leider keinen Sonderfall mehr dar. Selbst wir sind komplett blankgescheuert vom nassen Lappen der neuen Zeit und eingegliedert in den gesamteuropäischen Lämmerchor. Wir haben das Interesse an der symphonischen Wucht der Wirklichkeit verloren und blöken stattdessen die geisttötenden Kinderlieder der neuen Dirigenten.

Also: Vergesst den mit der Demokratie — mein Gott, ich töne wie Haubitzen-Ursel und ihre Despotie-Zulieferer — und konzentriert euch darauf, wieder eine Bildungsnation zu werden. Gewiss, auch das ist keine Garantie für das Abwenden künftiger Barbareien, aber einen Versuch ist’s wert, oder? Renoviert eure Schulen, schmeisst die „Neuen Aufgeweckten“ hinaus, säubert eure Unis von jenen, die freies Denken für Hochverrat an der Erlösungsformel halten, und vor allem: Jagt mindestens die Hälfte eurer staatlichen und parastaatlichen Administratoren in die freie Wirtschaft, wo sie untergehen oder bestehen mögen im Kampf um ihre eigene Nützlichkeit. Make „Versteher“ great again!

Soviel zu den Rezepten eines pädagogischen Frontschweins, im Wissen darum, dass deren Zubereitung wohl in weiter Ferne liegt. Aber was soll ich tun, ich leicht angetrunkene Heulsuse, deren glasig-trüber Blick auf all den grässlichen kantonalen Farbflächen ruht, mit denen die Abstimmungsstatistiker gerade die heißgeliebte Heimatlandkarte schänden?

Morgen werd‘ ich milder sein. Heute verlasse ich euch in der Suhle der Bitternis; seht’s mir bitte nach.

Trittst im Morgenrot daheeeeer ...


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